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![]() ![]() Die HirschkuhSie rief ihn nicht mit Menschenstimme, Volkslied
Im Talgrund, am Rande der weißen Geröllhalden von Krainitza, stand einst die Wassermühle des alten Zono. Noch immer grünen dort die Weiden, noch immer fließt der Bach, aber die Mühle ist nicht mehr da - nur verfallene, von Brombeergestrüpp überwucherte Mauern und ein paar ergraute Balken, morsch wie Pilze. Was hier geschah, hat sich vor langer, langer Zeit zugetragen, und heute sind weder die Menschen noch der Ort wie einst. Zwei Männer gingen in dieser Mühle ein und aus: Großvater Zono und sein Sohn Stefan. Großvater Zono war ein Greis. Alte Leute halten sich meist gebeugt, und während die Jungen nach oben schauen, richten die Alten den Blick auf die Erde, die sie bald aufnehmen und bergen wird. Großvater Zono war aber nicht nur gebeugt, sondern infolge einer Krankheit geradezu verkrümmt; beim Gehen mußte er den Stock ans Kreuz legen, beide Enden umklammern und sich so im Gleichgewicht halten. Er ging langsam und starrte vor sich hin, als suche er etwas. Auf dem Weg zur Mühle wich er weder nach rechts noch nach links vom Pfad ab, sondern folgte ihm, wie der sich auch schlängeln und winden mochte. Ganz anders war Stefan. Für ihn gab es keinen Weg. Kaum hatte man ihn aus dem Dorf kommen sehen, da stand er auch schon auf dem Hügel oberhalb der Mühle, groß und stattlich, und die Kinder, die oft in den Gartenschlichen, um Pflaumen zu stibitzen, ließen sich von den Bäumen purzeln und stoben davon, so rasch die Beine sie trugen - wie Spatzen, über die der Falke herfällt. Aber nicht immer hatte Stefan es eilig, zur Mühle zu kommen. Manchmal stieg er von der Anhöhe zum Ende des Dorfes hinab, wo das Haus der Witwe Mutza stand. Sie war eine Wahrsagerin, eine Hexe, verstand sich auf Kräuter und Heilpflanzen und wußte allerlei von Unholden und Waldfeen zu erzählen. Die Feen, so behauptete sie, hätten schon längst das Weite gesucht, weil die Menschen so schlecht geworden seien; nur eine, und zwar die allerschönste, sei hier geblieben und lebe bei ihr: Dojna, ihre liebliche Tochter. Ihretwegen ging Stefan dort vorbei, wenn er zur Mühle zurückkehrte. In einem verschwiegenen Winkel, unter Pflaumenbäumen und Sonnenblumen plauderten sie miteinander. Dojna stand im Garten, Stefan draußen vor der Hecke. Sie war blond und hielt ihre blauen Augen schüchtern gesenkt; er war dunkelhaarig, breitschultrig und hatte einen kleinen schwarzen Bart, der sein Gesicht umrahmte, es aber nicht verdeckte. Seine schmalen Lippen lächelten, aber die Augen blieben ernst; in den Pupillen flackerten Flämmchen, hinter denen ein böser Gedanke zu lauern schien. Ob er von Dojna einen Blumenstrauß erhielt oder nicht - gleichviel als wären ihm Flügel gewachsen, sprang er über Täler und Höhen, schwang sich von Hügel zu Hügel und war im Nu an der Mühle. Er öffnete den Schieber, das Wasser begann zu laufen, und gleich darauf ratterte das Mühlrad. Was war denn Großvater Zonos Mühle? Ein armseliges Häuschen, niedrig und zusammengeflickt, das am Abhang klebte wie ein Schwalbennest unter dem Vordach. Groß hingegen war die ausgehöhlte Wasserrinne, glitschig, verquollen und von grünem Schimmel überzogen. Durch sie schoß das Wasser, stürzte hinab auf die Radschaufeln, schäumte auf der anderen Seite hervor wie aus einer dunklen Felsspalte, schlug plätschernd an die Mauern und die naßglänzende Steinplatte, lief über, rauschte und sprühte tausend feine Tropfen in die Luft. Wie Tau schillerte das in der Sonne, ein kleiner Regenbogen, in dem sich das Licht zu sammeln schien. Alles, was fröhlich war, sang das Lied des Mühlrads. Ringsum aber dehnten sich nur schweigend Talgründe und dunkle Wälder. Eines Tages kam Stefan, Großvater Zonos Sohn, mit einem Spaten auf der Schulter aus dem Haus und machte sich daran, das Bachbett auszubessern. Er erreichte die Stelle, wo das Wasser aus dem Walde trat, sich breit ergoß und einen kühlen, klaren Weiher bildete. Hier pflegten die Frauen aus dem Dorf Teppiche zu waschen und ihr Linnen zu bleichen. Jetzt aber war niemand da. Stefan konnte die Steinchen auf dem Grund erkennen, der Ufersand war rein und eben wie eine Schreibtafel, nur hier und dort waren Spuren zu sehen. Stefan bückte sich und betrachtete sie aufmerksam. Sie rührten nicht von einer Geiß her, obwohl Kaiistrats Ziegen in der Nähe grasten und Mittagsrast hielten; auch von einer Kuh stammten sie nicht, obgleich die Dorfherde stets hier vorbeizog. Er bückte sich noch tiefer, um die Fußtapfen genau zu untersuchen. Dann richtete er sich auf, er strahlte, seine Augen leuchteten - das war die Fährte der Hirschkuh, die auf dem Berge umging und von der die Frauen sprachen, wenn sie nach den Feuerbränden im Wald blickten oder dem Rauschen der Haine oberhalb des Dorfes lauschten. Früher hatte ihnen Furcht eingeflößt, jetzt aber schauten sie voller Vertrauen zum Berg hinüber und freuten sich, denn dort ging die Hirschkuh um. Die Hirten erzählten, sie sei mit Windeseile vor ihnen geflohen; die Holzfäller, die vom Hochwald herunterkamen, ein Sträußchen Storchschnabel und Primeln über dem Ohr, berichteten auch, sie hätten sie ganz nahe gesehen und sie habe Augen wie ein Mensch. Das alles war Stefan bekannt. Aber von Weiberverstand und Weibergeschwätz hielt er nichts. Er war ein tüchtiger Jäger, und der Gedanke an die Hirschkuh entfachte in ihm eine wilde Gier. Er lief in die Mühle, nahm seine Flinte, schwang den Beutel über die Schulter und band das Pulverhorn an den Gurt. Dann sperrte er das Wasser ab, das Klappern des Rades verstummte, der Regenbogen erlosch, es wurde still, und Stefan hastete auf steilen Ziegenpfaden bergan. Den ganzen Tag strich er umher. Er kletterte in tiefe Schluchten, wanderte unter dem Blätterdach alter Buchen und Eichen wie unter einem Kirchengewölbe und sah in dem vorjährigen Laub bald die schwarzen Beeren der Tollkirsche, bald die roten Hüte seltsamer Pilze. An einer Stelle erblickte er einen Wolf, an einer anderen stieß er auf die deutliche Fährte eines Bären, an einer dritten fiel feines Reisig auf ihn, und als er den Kopf hob, schaute er in die runden, grimmigen Augen einer Wildkatze. Doch kein einziges Mal nahm er die leinte von der Schulter. Er erklomm den hohen Kamm des Berges, wo der Wind das Gras der Wiesen kräuselte. Ringsum gab es nichts als blauen Himmel und weiße Wolken, und Stefan konnte weithin nach der Hirschkuh spähen. Aber sie war nirgends zu finden. Unverdrossen suchte er weiter. Er ging zu den Hirtenjungen und fragte sie nach der Hirschkuh. Als sie die Flinte sahen und seine finster zusammengezogenen Augenbrauen, zuckten sie mit den Schultern und schwiegen. Ihre Hunde sprangen ihn an, und keiner wehrte ihnen. Er traf auch Zigeuner, die im Walde Holz fällten. Mit Blumensträußen geschmückt, kamen sie fröhlich daher, und ihre von der Sonne gebräunten Leiber glänzten. "Wo ist die Hirschkuh?" Sie starrten ihn an wie einen wilden Bären, musterten seine hohe Gestalt, seine Büchse und schwiegen. Dann gingen sie weiter, und er hörte sie in ihrer fremden Sprache laut durcheinander schwatzen. Dem Jäger bleibt immer die Hoffnung auf ein noch nicht durchsuchtes Fleckchen. Stefan wanderte bis zum Abend umher, und erst als er nur schwarzes Dunkel vor den Augen sah, kehrte er zur Mühle zurück. Am nächsten Tag durchstreifte, er von neuem das Berggelände, ohne eine Spur zu entdecken. Am dritten Tage erging es ihm nicht besser. Als er müde und verdrossen über das Gestein zu Tal stieg, rief jemand seinen Namen. Es war Kalistrat, der Geißhirt, der auf einem Felsen stand und Schnüre aus Ziegenhaar drehte. "He, Stefan!" mahnte er mit tiefer Baßstimme. "Laß ab von der Hirschkuh, hörst du! Es ist eine Sünde. Laß das Tier in Ruh, sieh dich lieber nach den Mädchen um, ja, nach den Mädchen..." Und er lachte, daß das Tal dröhnte. Was Kalistrat, der Geißhirt, wußte, war auch im Dort bekannt. Abends versammelten sich die Frauen zu einem Plauderstündchen. Auf dem Berg loderte ein Brand. Man sah keinen Rauch, keine Flamme, nur eine Feuerlinie; gebogen wie das kostbare Geschmeide auf der Brust einer Königstochter. Die Wälder rauschten, Fledermäuse flogen lautlos unter den Dächern hin und her. Die Mädchen und Frauen drängten sich um Mutza, die Wahrsagerin. "Denkt euch", ereiferte sie sich, "Zonos Sohn, dieser Taugenichts, ist ausgezogen, der Hirschkuh nachzustellen. Töten will er sie. Möge Gott ihn selbst töten! An so einem Tier darf man sich doch nicht vergreifen. Es stößt nicht, es beißt nicht, es tut keinem was zuleide. Und wo, frage ich euch, wo geht es um, wo läßt es sich sehen? Immer an der Klosterwiese, auf der einst das Kloster der Mutter Gottes stand. Einmal, so heißt es, sind Türken gekommen, und die Mönche wollten das heilige Kreuz vor ihnen verbergen. Sie versteckten es, aber am nächsten Morgen dünkte ihnen die Stelle nicht sicher genug, und sie brachten es anderswohin. Und überall, wo das heilige Kreuz gelegen hat, ist Storchschnabel, das Gesundheitskraut, gewachsen... Darum gibt es dort so viel Storchschnabel..." Mutza schwieg eine Weile; mag sein, daß sie ein wenig verschnaufen oder die Wirkung ihrer Worte prüfen wollte. Dann fuhr sie fort: "Dieser Ort ist heilig. Wie oft hat Tante Gana - Gott hab sie selig - erzählt, ihr sei eines Tages, als sie auf der Klosterwiese Storchschnabel pflückte, eine Frau mit einem Kind auf dem Arm erschienen." Mutza senkte die Stimme, und das, was sie den Frauen zuraunte, entlockte ihnen einen Schrei der Verwunderung. "Ja", schloß sie, "die Mutter Gottes ist es. Dem einen erscheint sie als Frau, dem anderen als Hirschkuh..." Ein Wind kam auf, das Rauschen der Wälder schwoll an, breitete sich aus, bis es wie das Tosen von Wasserfällen klang. Die Frauen standen auf und machten sich laut sprechend auf den Heimweg. Durch das Dunkel unter den Dächern huschte der Schatten eines Mannes, der gelauscht hatte und sich jetzt beeilte, unbemerkt fortzukommen. Es war Stefan. Tags darauf stieg er wieder auf den Berg. Als er sich an Mutzas Worte erinnerte, mußte er lachen. Er suchte noch immer die Hirschkuh, aber nun war er schon geduldiger geworden, und damit ihm die Zeit nicht lang würde, dachte er an etwas anderes, an Dojna, mit der er sich nicht treffen wollte, bevor er die Hirschkuh erlegt hatte. Aber auch Dimana kam ihm in den Sinn, die braune, schwarzäugige Dimana. Sie glich Dojna in nichts, sie war schweigsam und hob nur verstohlen den Blick; aber was für eine kräftige, biegsame Gestalt sie hatte! ,Es geht nicht, ich habe mein Wort gegeben', dachte Stefan, sooft es ihn zu Dojna zog. Aber seine Gedanken waren bald bei der einen, bald bei der anderen. Das belustigte ihn, statt ihn zu verdrießen, und wie zur Kurzweil fragte er sich: ,Dojna oder Dimana? Die Blonde oder die Braune?' Eines Tages rastete er an einem Felsen unterhalb der Klosterwiese. Auf einmal war es, als hieße ihn jemand sich umdrehen. Und da - ganz nahe, am dunklen Waldrand, stand die Hirschkuh. Stefan erzitterte, sein Herz pochte wild. Aber er zwang sich zur Ruhe, legte an und zielte auf das linke Blatt, aufs Herz... Plötzlich wallte weißer Nebel vor seinen Augen und zerfloß dann. Nun sah er im Abendsonnenschein wieder die Hirschkuh und neben ihr eine Frau, die sie melkte. Was tun? Wenn er schießt, so trifft er die Frau. Er ließ die Flinte sinken, und die Gestalt verschwand. Abermals legte er an - da war sie wieder! Noch einmal - das gleiche geschah. Erschrocken und verwirrt sprang er auf - die Hirschkuh war fort. Ohne zu säumen, eilte er ins Tal hinunter. Am nächsten Tag blieb er in der Mühle. Müde war ich, dachte er, es war gar keine Frau da, ich hätte schießen sollen! Es wurde ihm leicht ums Herz, er dachte an Dimana, fühlte sich kräftig genug, einen Berg zu stürzen. Und weil er wußte, daß man im Dorf über ihn lachen würde, entbrannte in ihm ein wilder Haß auf die Menschen. Obwohl er bereits seinen Anteil aus den Getreidesäcken genommen hatte, schüttete er nochmals die gleiche Menge heraus. Am Mahlwerk war etwas beschädigt; er mühte sich stundenlang, es in Ordnung zu bringen. Unversehens fiel ihm Dojna ein, und ihn packte Reue. Er dachte nicht mehr daran, auf den Berg zu gehen und der Hirschkuh nachzustellen. Sein Herz füllte sich mit Güte, er schaufelte das gestohlene Getreide in die Säcke zurück; die Arbeit ging ihm flink von der Hand, und der Schaden war bald behoben: Die Mühle lief, der Regenbogen schillerte wieder über dem Bach. Eines Morgens hörte er die Stimme Kaiistrats, des Ziegenhirten, und trat vor die Tür. "Stefane rief der Geißhirt, "wo hast du deine Augen? Bist du blind? Die Hirschkuh ist eben vorbeigekommen... dicht an der Mühle! Da ist sie!" Stefan blickte in die Richtung, die ihm der ausgestreckte Arm des Hirten wies, und sah die Hirschkuh in langen Sätzen in den Wald verschwinden, während das Tal vom Lachen Kaiistrats widerhallte. Da nahm Stefan seine Flinte und lehnte sie draußen an die Mauer, damit er sie jederzeit zur Hand hätte. Später trug er sie ins Haus, aber nur, um sie wieder herauszuholen. Bald dachte er an Dojna, bald an Dimana, bald stahl er Korn, bald schüttete er es in die Säcke zurück. Bald ging die Mühle, und der Regenbogen erschien, bald stand sie still, und das bunte Leuchten erlosch... Es kam die Fastenzeit zu Sankt Petri. Der Abend zog herauf; die brennenden Pfeile, die die Kinder warfen, leuchteten wie ein Sternenregen durch das tiefe Dunkel, das über dem Dort lag. Der Mond ging auf, schwerfällig und feierlich rauschten die Haine, als sängen sie ein altes Tafellied. Dojna trat auf den Hof, schaute zum Mond auf, lauschte dem Raunen der Wälder, schlenderte in den Garten und blieb an der Hecke stehen, wo sie sich so oft mit Stefan getroffen hatte. Keine Schritte erklangen, niemand kam. Da ging sie hinaus. Die Häuser von Bozur schimmerten weiß, wie mit Linnen bedeckt. Der Berg ruhte. Die Wälder an seinem Saum waren schwarz, so schwarz wie das Tal, in dem Stefans Mühle stand. Nur ein Fensterchen war dort hell, ein Auge leuchtete - Stefans Auge. Tränen trübten den Blick des Mädchens. Da begann jenes Auge zu blinzeln, sie zu rufen. Ohne zu wissen, was sie tat, schritt sie auf das Licht zu, unwiderstehlich vorwärts getrieben. Was ist denn dabei, wenn sie Stefan entgegengeht? Es ist ja Pastnacht, der Vorabend der Fastenzeit, alle bitten einander um Vergebung, alle umarmen und küssen sich... Ja, umarmen und küssen sich! Und sie hastet durch die Nacht, sie läuft nicht, sie fliegt. Nun ist sie schon im Tal, erklimmt den Abhang. Das Fensterchen ist erleuchtet, aber die Mühle steht still. Stefan ist auf der Jagd, denkt sie. Wart, ich will ihn foppen. Sie duckt sich hinter die Sträucher und fiept wie eine Hirschkuh. Der Schatten eines großen Mannes huscht um die Mühle. Es ist Stefan. Er starrt auf die schwankenden Zweige, sieht deutlich die Hirschkuh. Groß ist sie und schwarz. Er legt an. Fluten weißen Lichtes wallen vom Himmel herab und ergießen sich über den Wald. Und siehe da: Neben der Hirschkuh zeigt sich eine Frauengestalt, im Mondlicht erglänzt ihr Gesicht, ihr Haar. Stefan fährt zusammen, weicht einen Schritt zurück, tastet nach einem Halt. Über und über vom Mond beschienen, steht die Frau vor ihm - Dojna! "Dojna!" ruft er. "Dojna, bist du's?" Sie lacht. "Bist du's?" wiederholt er. "Warum bist du gekommen?" Sie freut sich, ihn zu sehen, und ohne zu zögern, sagt sie: "Ich bin gekommen, damit du mich heimführst. Ja, führe mich heim, willst du?" Stefan erwidert nichts, er faßt sie bei der Hand und führt sie zur Mühle. Als die beiden über die Schwelle treten, zucken sie zusammen: Sie hören ein Geräusch, ein Rattern, das Wasser plätschert, das Mühlrad klappert. Die Mühle läuft von selbst.
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